Walther Friesen
Historischer Kommentar zum Appel
von Hugo Wormsbecher an Wladimir Putin
Seit Wochen wird in den russlanddeutschen Netzwerken der „Appell an den Präsidenten Russlands über die Wiederherstellung der Staatlichkeit auch für Russlanddeutsche“ von Hugo Wormsbecher, dem Schriftsteller und Veteran der Menschenrechtsbewegung in der Sowjetunion heftig diskutiert. Brauchen noch die „Deutschen aus Russland“ eine Entschuldigung bzw. soll noch das Oberhaupt des modernen Russlands diese Volksgruppe der Deutschen für das, was den Millionen Menschen angetan wurde, um Vergebung bitten? Hat Putin mit dem am Sontag (!), den 31. Januar 2016 unterschriebenen Erlass der tausendjährigen glorreichen und leidgeprüften Geschichte der in Osteuropa uransässigen Deutschen, deren Vorfahren die Mitbegründer des Russischen Imperiums sind, ein Ende gesetzt?
Offensichtlich, gibt es eine gewisse Kontinuität zwischen den germanischen Ethnien, die das vielstämmige Osteuropa besiedelten, und dem modernen Russland. Es spiegelt sich anschaulich, wie zum Beispiel, in den Doppeladler-Wappen der Russischen Föderation, des Großfürstentums Moskau und des Fürstentums der Krimgoten, wo die christlichen Goten, Armenier, Griechen und die Juden friedlich zusammenlebten:
Die Deutschen machten einen bemerkungswerten Teil der Republiken Nowgorod und Pskow aus. Die im Nowgoroder Staatsmuseum4 aufbewahrte Birkenrindenurkunde Nr. 753 beinhaltet den auf einer germanischen Mundart abgefassten Zauberspruchtext. Das Schriftstück entstand voraussichtlich zwischen 1050 und 1075.
Die Deutschen nahmen am gesellschaftlichen und religiösen Leben Osteuropas teil. Der geistige Werdegang des Lübecker Kaufmannes Jacob Potharst stellt in diesem Zusammenhang ein krasses Beispiel dar. 1243 ließ er sich in Nowgorod nieder, wo er zu Wohlstand und Reichtum kam. Später verteilte er sein Vermögen an die Armen, um fortan auf Kirchentreppen und Müllhalden als Narr in Christo zu leben. Er soll am 3. Juli 1290 durch seine Gebete die Stadt Weliki Ustjug vor dem Untergang durch den Meteoriteneinschlag bewahrt haben. Jacob Potharst wird als Heiliger der Russisch-orthodoxen Kirche, Prokop von Ustjug – den ersten russischen Jurodiwy (Narr in Christo), verehrt.
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Am 22. März 1489 beauftragte der Großfürst von Moskau Iwan III. seine Gesandten, deutsche Fachleute im Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (weiter – Deutsches Imperium) anzuwerben. Man brauchte einen „Bergmeister, um die Gold- und Silbervorkommen aufzusuchen“, „einen Pionier, der Festungen einnehmen könnte“, „einen gekonnten Kanonier“ und „einen erfahrenen Baumeister, der Paläste bauen könnte“:
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Das ist die erste dokumentierte Einladung der fachkundigen Deutschen nach Russland, die dem Imperator des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Friedrich III. und seinem Sohn, dem römisch-deutschen König Maximilian I. übermittelt wurde.
Bemerkenswert, dass Iwan III, dessen großfürstlicher Titel, der europäischen Adelshierarchie gemäß, nur dem Rang des Herzogs entsprach, wurde im Bündnisvertrag mit dem römisch-deutschen König Maximilian I. vom 16. August 1490 königähnlich als „von Gottes Gnaden einziger Fürst und Herr in Russland“ tituliert:
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Drei Jahre später, am 6. Mai 1492, ließ Iwan III. durch seine Boten, Juri Trachaniot und Michail Eropkin-Kljapik, einen der mächtigsten Herrscher des Deutschen Imperiums, Kurfürsten Friedrich von Sachsen, bitten, seinen untertänigen Handwerken zu gestatten, sich in Russland anzusiedeln. Der Großfürst war bereit, dem deutschen Kurfürst mit Allem zu dienen, was sein Land erzeugte:
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„Von der Tätigkeit der Letzteren versprach sich Iwan besonders viel, und zwei derselben entsprachen auch seinen Erwartungen im vollen Maße. Johann und Victor, nur ihre Vornamen haben die russischen Annalen aufbewahrt, waren in Begleitung zweier Russen an die Ufer der Petschora gezogen, um Silber zu suchen; was sie hier nicht fanden, trafen sie dreihundert Werst südwestlich an der Zylma, einem Nebenfluss der Petschora. Auf einem Flächenraum von zehn Werst entdeckten sie eine Silber- und eine Kupfermine, deren Erträgnisse den Großfürsten bald in den Stand setzten, aus heimatlichem Silber Münzen schlagen zu können, während er bis dahin die Edelmetalle vom Auslande bezogen hatte.“9
Der gemeinsame Kampf des Großfürstentums Moskau (= Zarentums Rus (ab 1547) = Russischen Imperiums (ab 1721)) und des Deutschen Imperiums gegen die Aggression des türkischen Osmanischen Reiches ist einer der entscheidendsten katalysierenden Faktoren gewesen, der zum Herauskristallisieren der eigentümlichen Volksgruppe der Deutschen – der Russlanddeutschen – beigetragen hat.
Das Beispiel des Moskauer Großfürstentums, das nach der Befreiung vom tatarischen Joch (1480) eine Zeit wirtschaftlicher Prosperität erlebte, begeisterte die anderen abendländischen Herrscher und Entscheidungsträger und bewegte sie zum aktiven Widerstand auch gegen die Osmanen. 1495 brachte der Machtpolitiker Papst Alexander VI. Borgia das Deutsche Imperium, die Seemächte – das Herzogtum Mailand, die Republik Venedig und Ferdinand II., der umfangreiche Territorien im Mittelmeer beherrschte – zum antitürkischen Bündnis, der „Heiligen Liga“, zusammen. Diese Allianz war auch gegen die französische Hegemonie in Italien gerichtet. Unter dem Motto „jeder Gegner meines Hauptgegners – des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation – ist mein Freund“ zog Frankreich es vor, sich dem strategischen Bündnis mit dem Osmanischen Reiche und Polen-Litauen anzuschließen.
Richtung Süden und Westen setzten allerdings die Osmanen ihren siegreichen Türkensturm fort. „Nach der Eroberung Ägyptens zu Beginn des Jahres 1517 schien das Osmanische Reich neben Ungarn und den angrenzenden Ländern auf dem Balkan nun auch verstärkt die italienische Halbinsel zu bedrohen. Zum Schutz der Christenheit gegen diese Gefahr setzte Leo X. im März 1517 ... den Beschluß zu einem allgemeinen Kreuzzug gegen die Osmanen durch. Die vom Papst vorgesehene große militärische Operation zu Lande und zur See erforderte die Unterstützung aller europäischen Fürsten“10. Der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Maximilian I., entwarf einen umfangreichen Kriegsführungsplan, der auch eine Teilnahme der „russischen Bogenschützen“11 vorsah, und entsendete Siegmund von Herberstein an den Hof des Großfürsten Wasilij III. Unter anderem musste Herberstein die Friedensbedingungen zwischen Polen-Litauen und dem Großfürstentum Moskau vermitteln, um das Zusammenwirken der aufgebauten großen Koalition zur Bekämpfung der Türkengefahr zu erleichtern. Die unbeugsame Stellung Polen-Litauens, die sich in der offenkundig unannehmbaren Forderung nach der Übergabe der Stadt Smolensk äußerte, hatte zum Ziel, das aufkeimende Bündnis zum Erliegen zu bringen.
Ein zusätzlicher Katalysator der geopolitischen Annäherung zwischen dem Deutschen Reich und dem Zarentum Rus war der andauernde interdynastische Kampf, den der Imperator Maximilian I. mit der polnischen Dynastie der Jagiellonen führte. Die Jagiellonen beherrschten um 1500 das Königreich Polen, das Großfürstentum Litauen, das Königreich Böhmen, das Königreich Ungarn und das Königreich Kroatien. Sie strebten nach der Aufrechterhaltung eines Macht-Gleichgewichts mit dem Osmanischen Reich und der Festigung ihres Besitzstandes auf dem Gebiet der ehemaligen Kiewer Rus gegen das Großfürstentum Moskau.
1521 eroberte der türkische Sultan Süleyman I. innerhalb von nur drei Wochen Belgrad. Seine Festung galt damals als eine der stärksten im Abendland. 1522 landete Süleyman mit seinen Truppen auf Rhodos und nahm die Festung im Dezember 1522 ein. Vier Jahre später wurde das Schicksal Ungarns nach der Schlacht von Mohács (29. August 1526), in der der letzte König von Böhmen, von Ungarn und Kroatien Ludwig II. getötet wurde, besiegelt. 1529 wurde Wien, Residenzstadt des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, belagert. Obwohl ein sehr früher Wintereinbruch Süleyman I. zwang, die Belagerung abzubrechen, wurden die Deutschen als Folge dieses Konflikts den Türken gegenüber langfristig tributpflichtig.
„Für das Abendland, vor allem für das Deutsche Reich, war im 16. Jahrhundert der türkische Sultan der Feind.“12 Die Abwehr der existenzbedrohenden Türkengefahr erforderte die Sammlung aller Kräfte der christlichen Welt, unabhängig von Glaubensschattierungen. 1529 reiste der zukünftige katholische Bischof von Wien, der Humanist Johann Fabri, im Auftrag vom Kaiser des Deutschen Imperiums Karl V. nach England, um vom englischen König Heinrich VIII. Unterstützung im Kampf gegen die Türken zu erhalten. Aber schon drei Jahre zuvor, in seiner 1526 in Basel gedruckten ‚Epistola‘, die eine Abhandlung über die Religion der „Moskowiter“ darstellte, hob er ihren christlichen Glaubenseifer hervor und stellte „die Frömmigkeit und die aristokratische Staatsform der Moskowiter den Deutschen als gutes Beispiel vor Augen.“13
Nachdem der osmanische Korsar Khair ad-Din im September 1538 die Flotte der Heiligen Liga in der Seeschlacht von Preveza (28. September 1538) vor der griechischen Küste besiegt und hierdurch die osmanische Vormachtstellung sowohl im östlichen als auch im westlichen Mittelmeer gesichert hatte, schloss Frankreich die „unheilige Allianz“ mit dem Osmanischen Reich. Die Zusammenarbeit zwischen dem König von Frankreich, Franz I., und dem Osmanischen Reich wurde im Deutschen Imperium mit verständlichem Abscheu wahrgenommen. Gerüchte und Flugblätter, die zeigten, wie Menschen in türkischer Kleidung beim französischen Hof gastfreundlich empfangen, während solche in deutscher Kleidung blutig verfolgt wurden, machten die Runde. Nach dringlichem Ersuchen Franz I. segelte Khair ad-Din im Sommer des Jahres 1543 auf Befehl Sultan Süleymans I. mit einer Flotte von einhundert Galeeren in den westlichen Mittelmeerraum mit dem Ziel, den Herrschaftsgebieten des spanischen Königs und späteren Regenten des Deutschen Imperiums, Karl V., so viel Schaden wie nur möglich zuzufügen. Die vereinte französisch-osmanische Flotte versuchte, im September die zum Deutschen Imperium gehörende Hafenstadt Nizza zu erobern. Das kaiserliche Entsatzheer rettete die Belagerten rechtzeitig. Die Türken blieben noch einen weiteren Tag in der Gegend und brandschatzten und plünderten abermals alles, was sie finden konnten. Den französischen Truppen gelang es jedoch noch, vor ihrer Abreise Nizza in Brand zu stecken. Danach zogen sie sich hinter den Fluss Var zurück, der die Grenze zu Frankreich bildete. Auch die Türken verließen die Region und segelten den französischen Hafen Toulon an. Wenige Stunden später traf das kaiserliche Heer in Nizza ein. So lagen im katholischen Frankreich osmanische Schiffe vor Anker, deren Ruderer zum großen Teil versklavte Christen bzw. auch Franzosen waren.
1543 erschien im Druck der Brief des holländischen katholischen Theologen und Astronomen Albertus Pighius, eines Freundes von Papst Hadrian VI., an dessen Nachfolger Papst Clemens VII., in dem er den Papst mit Nachdruck bat, sich um eine Kirchenunion mit dem Großfürsten von Moskau, Wassili III., zu bemühen und mit Moskau eine Allianz gegen die Türken zu schließen. Am Einverständnis Wassilis III. zweifelte der Mathematiker Pighius nicht, weil der Moskauer Großfürst „ein uns freundlich gesinnter christlicher Fürst“14 sei. Wassili III. setzte die Politik seines Vaters, des Großfürsten von Moskau Iwan III., zur Bekämpfung der Satelliten des Osmanischen Reiches fort. Im Osten versuchte er, Zugeständnisse zu machen, um Frieden mit dem Khanat Kasan zu wahren, und im Süden führte er Krieg gegen das Krimkhanat, den Vasallenstaat des Osmanischen Reiches.
Um auf gleicher Höhe mit den Staatsoberhäuptern der europäischen Großmächte verhandeln zu können, ließ sich der 16-jährige Großfürst von Moskau Iwan IV. (1530–1584) am 16. Januar 1547 durch den Metropoliten von Moskau in der Moskauer Maria-Entschlafens-Kathedrale wie ein oströmischer Imperator bzw. „Fürst von Rosch“ im Sinne des Buches des Propheten Hesekiel (38,2–3; 39,1) zum Zaren krönen. Die an die Heilige Schrift angelehnte Botschaft verkündigte in aller Welt, dass von nun an Iwan IV. sich als ein „König der Völker, die nördlich des Heiligen Landes, d. h. Palästina, leben“ („царь и великій князь всеа Русіи“) verstand. Das ließ auch unzweideutig auf die zukünftigen territorialen Ansprüche des neu etablierten Gemeinwesens Eurasiens – des Zarentums Rus – schließen.
Die beiden von der polnisch-litauischen Krone abhängigen Teile des ehemaligen Deutschen Ordens – Preußen und Livland – verhielten sich unterschiedlich den mächtigen militär-politischen Allianzen gegenüber. Während das Herzogtum Preußen mit dem Kreativitäts- und Machtzentrum Königsberg imstande war, seine Neutralität gegenüber brennenden gesamteuropäischen Konflikten zu behaupten, nahm mit der Zeit der Livländische Orden, der der lose organisierten Livländischen Konföderation vorstand, von der besonnenen und folgerichtigen Versöhnungspolitik der livländischen Landmeister, Johann Freitag von Loringhoven (*1485; † 1494) und Wolter von Plettenberg (* 1450; † 1535), Abstand und steuerte – wegen vorübergehender merkantiler Interessen – auf die Konfrontation mit dem Zarentum Rus zu.
Polen-Litauen und die faktisch zu seinem Satellitenstaat gewordene Livländische Konföderation versuchten, alle Kontakte zwischen dem Deutschen Reich und dem Großfürstentum Moskau (ab 1547: Zarentum Rus), das die aufeinanderfolgenden Wellen des Türkensturms abwehrte, zu verhindern. Kennzeichnend in diesem Zusammenhang ist das sogenannte „Unternehmen Schlitte“, das im damaligen Europa für viel Aufsehen sorgte. 1546 reiste ein gewisser Johann Schlitte aus dem zum lutherischen Glauben konvertierten Goslar mit der Empfehlung des preußischen Herzogs Albrecht nach Moskau, wo er von Iwan IV. den Auftrag bekam, zusammen mit Handwerkern vier Theologen in deutschen Ländern anzuwerben. Zu jener Zeit stellten der Zar und seine Höflinge Überlegungen an, ob sie zum neuen religiösen Glauben, dem Protestantismus, wechseln sollten. 1548 erhielt Schlitte vom Kaiser des Deutschen Imperiums, Karl V., der sich als Schützer des Abendlandes vor den Osmanen verstand, die Erlaubnis, Fachleute und Gelehrte anzuwerben – der Kaiser war diesem Menschentransferunternehmen gut gesinnt. Es gelang Schlitte, mehr als 300 Fachleute zu finden, unter ihnen vier Theologen. Dennoch scheiterte das Unterfangen letztendlich. Die von den Erbfeinden der Einigkeit zwischen dem Deutschen Imperium und dem Zarentum Rus angestachelten Livländer legten im Sammelhafen Lübeck Einspruch gegen dieses Verfahren ein, und samt ihrem Anführer wurden die bereitgestellten Spezialisten im von Polen-Litauen kontrollierten Gebiet des Deutschen Ordens festgenommen. Einige schafften es jedoch, den Wachen zu entfliehen, und versuchten, in einzelnen Gruppen und auf eigene Gefahr durch die Grenzen nach Osten zu schlüpfen. Einer von ihnen, der Gewerbetreibende Hans, wurde in Livland verhaftet und hingerichtet.
Um die Mitte des 16. Jahrhunderts dienten jedoch bereits zahlreiche deutsche Spezialisten als Ausbilder in der russischen Armee; insbesondere in der Artillerie und im Pionierwesen spielten die deutschen Fachleute eine Schlüsselrolle. Das hatte positive Auswirkungen auf den Verlauf der Moskau-Kasan-Kriege. Im Sommer 1552 besiegte Iwan IV. den krimtatarischen Khan Devlet I. Giray, der vergeblich versuchte, die Festungsstadt Tula einzunehmen. Zwischen den Verteidigern waren auch „ausländische Krieger“, so die Chroniken. Am 2. Oktober 1552 fiel auch Kasan, wo die krimtatarische Herrscherdynastie Giray trotz des Aufstands der Kasaner Aristokratie (1551) zur Macht kam. Damit die Zarentruppen die Kasaner Festung erstürmen konnten, wurden Mienen unter den Mauern angelegt, und die akribisch umgesetzte Explosion brachte sie zum Einsturz. Die Sappeurarbeiten wurden unter der Leitung eines gewissen Butler, eines Engländers, und eines deutschen Fachmanns namens Erasmus durchgeführt. Der Fall von Kasan hatte nicht nur eine zentrale Bedeutung für die Sicherung der Ostgrenze des Abendlands an der Wolga und eröffnete den Weg für die weitere Erschließung Eurasiens, sondern er trug auch zum Aufbau des antitürkischen Bündnisses bei, in dem eine der zentralen Rollen auch dem sunnitischen Khanat Kasan zugeordnet worden war. Die Einnahme Kasans 1552 verwandelte das Zarentum Rus in einen multikonfessionellen Staat. Das Khanat Kasan blieb in Personalunion mit dem Zarentum Rus bestehen. Die Zaren wurden fortan auch als Zaren von Kasan tituliert.
Der 1558 begonnene 25-jährige Große Koalitionskrieg wird in der Geschichtsschreibung als Livländischer Krieg (1558–1583) bezeichnet und als ein Kampf zwischen dem Zarentum Rus, Polen-Litauen, Dänemark und Schweden um die Vorherrschaft im Baltikum und im Ostseeraum dargestellt. Dennoch verzeichnen die Chroniken genau für diese Zeitspanne verwüstende Einfälle des Verbündeten des Osmanischen Reiches – der Krimtataren – auf das Zarentum in den Jahren 1559, 1560, 1564, 1570, 1572, 1578, 1581 und 1582.
Der Ausbruch des Livländischen Krieges kam Polen-Litauen und dem Osmanischen Reich sehr gelegen. Die beiden waren an einer Ablenkung bzw. Schwächung des Verbündeten des Deutschen Imperiums interessiert.
Am 17. Januar 1558 marschierten die Truppen Iwans IV. in Livland ein, unter dem Vorwand, die vertragsbedingten Rückstände einzutreiben (was eigentlich auch den Tatsachen entsprach). Zwar waren die livländischen Städte an der Ostseeküste wegen des Handels mit Westeuropa von strategischer Bedeutung für das Zarentum. Schon 1557 gründete Iwan IV. mit Unterstützung der Moskauer Kompanie den neuen Hafen am Ufer der Narwa, nicht weit von ihrer Mündung in die Ostsee und gegenüber der livländischen Stadt Narwa – mit dem Ziel, die traditionellen Handelsrouten umzuleiten und die livländischen Hafenstädte Riga und Reval zu umgehen. Dennoch wollte der Zar den Partnerstaat vielmehr als einen ihm freundlich gesinnten Nachbarn haben, der zwischen seinem Machtbereich und dem Deutschen Reich stehen bzw. ihn mit diesem verbünden sollte.
Föderativer Staat
Khanat Kasan – Zarentum Rus – Königreich Livland
Die Anfangsphase des Livländischen Krieges war für das Zarentum Rus aus geopolitischer und militärischer Sicht triumphal. Nach der Einnahme der Festungen Narwa, Dorpat und Neuhausen, die den Zarentruppen zähen Widerstand geleistet hatten, gaben die meisten deutschen Festungen ohne Widerstand auf. Riga blieb jedoch unbesetzt. In den besiegten Städten blieb die gemeinwesentliche Selbstverwaltung bestehen, den Gläubigen wurde Religionsfreiheit gewährt und den Geschäftsleuten der steuerfreie Handel mit dem Zarentum versprochen. Der Zar ließ die Gelder für den Wiederaufbau von Narwa und Darlehen für die Grundbesitzer aus dem Staatsschatz ausgeben. Für den Winter 1558/1559 beschlossen die Zarenheerführer, die Mehrheit der Invasionsstreitkräfte auf frühere Stationierungspunkte, die sich auf dem Territorium des Zarentums befanden, abzuziehen. Nur kleine Besatzungen wurden in Livland belassen.
Diese Gelegenheit ergriff der neu gewählte Landmeister Livlands, Gotthard Kettler, dem der Deutsche Orden im Reich, die Deutsche Hanse und der neue Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, Ferdinand I. moralische Unterstützung versprochen hatten. Allerdings bekam Kettler realen militärischen Beistand vom katholischen Großfürstentum Litauen, das schon 1386 eine Union mit dem ebenso katholischen Polen eingegangen war. Am 31. August 1559 schloss Kettler mit dem Großfürsten von Litauen Sigismund II. August ein Übereinkommen, dem entsprechend sich Süd- und Zentrallivland mit Riga als Protektorat dem Großfürstentum Litauen unterstellten. Gleichzeitig wurde Nordlivland mit Reval durch die schwedischen Truppen besetzt. Die Insel Ösel wurde den Dänen für 30.000 Taler verkauft.
Kettler sammelte die Verstärkungstruppen und überfiel die kleinen vereinzelten Besatzungsgarnisonen des Zaren. Seine Streitkräfte nahmen keine Gefangenen; die Chroniken berichten, dass 1000 Zarenkrieger niedergemetzelt wurden.
Die Vergeltungsaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Kettlers Truppen wurden in der Schlacht bei Ermes (2. August 1560) entscheidend geschlagen. Am 5. März 1562 legte Gotthard Kettler die Insignien des Ordensmeisters ab und schwor dem polnischen König den Lehnseid. Livland wurde in polnische, dänische, schwedische und zaristische Besatzungs- bzw. Einflusszonen aufgeteilt. Von diesem Zeitpunkt an musste der Zar Krieg gegen die übermächtige Koalition des katholischen Polen-Litauens führen, mit dem die lutherischen Königreiche Schweden und Dänemark sich verbündeten. Dann entschied sich der Zar für eine andere Strategie und bemühte sich, Dänemark auf seine Seite zu bringen. Dafür gab es gute Voraussetzungen.
Der König von Dänemark und Norwegen, Christian III., führte 1536 den lutherischen Glauben in seinem Königreich ein. Zuvor stieß er auf zähen Widerstand des katholisch dominierten Reichsrates und der katholischen Bischöfe, die er letztendlich verhaften ließ. Christian brauchte sowohl die Unterstützung des ebenso lutherischen preußischen Herzogs Albrecht bzw. der Königsberger Theologen in Glaubensfragen als auch die Neutralität Preußens in seinem Kampf gegen den Nebenbuhler Schweden um die Vorherrschaft im Ostseeraum. Schon 1550 richtete Christian dem Zaren sein Anliegen aus, eine lutherische Mission im Zarentum zu betreiben.15 Dieses Angebot blieb letztendlich nicht ohne Folgen.
1570 ernannte Iwan IV. den dritten Sohn von Christian III., Magnus von Dänemark, zum König von Livland und Oberbefehlshaber der russischen Armee im Feldzug gegen die Schweden, die Nordlivland in Besitz genommen hatten. Das Königreich von Livland war ein Neugebilde, das aus Bruchteilen des Besitzes des zerschlagenen Livländischen Ordens zur Sicherung der unmittelbaren Kontakte zwischen dem Zarentum und dem Deutschen Reich ins Leben gerufen wurde. Der aufgestellte König bekam ein 25.000 Mann starkes Heer.
In demselben Jahr, 1570, fielen die Krimtataren ins Zarentum Rus ein. Im folgenden Jahr durchbrach das Tatarenheer die Stellungen an der Oka und brannte vom 24. bis zum 26. Mai 1571 Moskau fast vollständig nieder. Danach verlangte der Krimkhan Devlet I. Giray die gehorsame Unterwerfung des Zarentums, das seit der Eroberung von Konstantinopel (29. Mai 1453) die Ostfront des christlichen Widerstandes gegen die türkischen Invasionen darstellte. Der Zar war bereit, nachzugeben und den größten Teil seiner Besitzungen dem Osmanischen Reich und dem Krimkhanat abzutreten. Seine Kapitulationsbereitschaft erschreckte die Deutschen. Die Gräuel der türkischen Feldzüge gegen das Abendland und der Belagerung von Wien (1529) waren ihnen noch frisch in der Erinnerung. Die deutschen Ritter (nach einigen Angaben bis zu 7000), die meistens aus Livland stammten, kamen zu Hilfe. In der Schlacht bei Molodi (Битва при Молодях), die sich zwischen dem 26. Juli und dem 2. August 1572 ereignete, zerschlug das verbündete christliche Heer (ca. 20.000 Mann), dank ihrer Militärkompetenzen, den zahlenmäßig fünffach überlegenen Gegner (ca. 125.000 Mann). Das war der Beginn des Niederganges des Krimkhanats.
Sowohl der Zar als auch der König von Livland waren bestrebt, ihr Bündnis auch durch Familienbande zu festigen. Am 12. April 1573 heiratete Magnus Marie Starizkaja, eine Nichte des Zaren.
Im Herbst 1575 trat Ioann IV. zurück und übertrug die Regierung an Sajin Bulat (* ?; † 1616), dem in Moskau ansässigen Khan von Kasimow, einem Enkel Achmads (* ?; † 1481), des letzten Khans der Goldenen Horde. Ein Jahr zuvor hatte er als Oberbefehlshaber der russischen Armee in Nordlivland vergeblich versucht, den Hafen Pernau zu erobern, der seit 1561 in schwedischem Besitz war. Der abgedankte Zar zog sich unter dem neuen Namen Fürst Iwan Mosckowskij für über ein Jahr aus dem Kreml zurück, übernahm aber Ende 1576 erneut die Macht.
Die infolge der Zarenabdankung unsichere politische Situation veranlasste König Magnus, seine eigene Politik in Bezug auf die Nachbarn zu verfolgen. Er nahm Verhandlungen mit dem König von Polen Stephan Báthory auf und fiel dadurch in Ungnade beim Zaren. 1578 flüchtete er mit seiner Frau nach Riga, das von den Polen kontrolliert wurde. Damit endete das kurzfristige Bestehen des Königreichs Livland und im weiteren Sinne das des föderativen Staates ‚Khanat Kasan – Zarentum Rus – Königreich Livland‘.
Der Friede von Pljussa (10. August 1583) beendete den Koalitionskrieg gegen das Zarentum Rus. Die militärischen Auseinandersetzungen mit Schweden dauerten bis zum Frieden von Teusina (18. Mai 1595) an, der das tatsächliche Blockaderecht und die territorialen Verluste des Zarentums besiegelte. Und wie immer in der Kriegszeit hatte die Zivilbevölkerung am meistens gelitten. Die Hauptkriegsbeute des Zaren waren die Gefangenen.
Ein neuer Anfang der Deutschen im Zarentum
Die Kampfführungsstrategie im Osten des Zarentums war auf die fachliche Unterstützung begabter Deutscher angewiesen, um die befestigten Stützpunkte an der Süd- und Ostgrenze zu bevölkern. Den aus den Chroniken abgeleiteten Einschätzungen des Autors nach, betraf die Umsiedlungspolitik Iwans IV. im Verlauf des Livländischen Krieges Zehntausende von Deutschen und Ostbalten. 1588 dienten allein in der mittelgroßen befestigten Ansiedlung Dedilowo an der Südgrenze des Zarentums (ca. 200 Kilometer südöstlich von Moskau) 82 „ausländische Krieger“16, so die Chronik.
Kennzeichnend ist in diesem Zusammenhang das abenteuerliche Leben von Johann Wilhelm von Fürstenberg, des vorletzten Landmeisters des Deutschen Ordens in Livland. Fürstenberg wurde im westfälischen Neheim, das heutzutage ein Arnsberger Ortsteil ist, geboren. Als Sechzehnjähriger trat er in den Deutschen Orden ein, wo er in der Versorgungseinrichtung für nachgeborene Söhne des westfälischen Adels ausgebildet wurde. Wilhelm folgte dem Vorbild zahlreicher Mitglieder der Familie von Fürstenberg. Wie diese begab er sich nach Livland, wo er im Laufe der Zeit wichtige Positionen erreichte. Am 20. Mai 1557 übernahm Fürstenberg als Landmeister die Führung der Angelegenheiten des Deutschen Ordens in Livland, dessen Armee zu diesem Zeitpunkt sehr schwach war und vor allem aus Söldnern bestand. Am 14. September 1557 schloss er ein Bündnis mit dem König von Polen, Sigismund August, der auch gleichzeitig der Großfürst von Litauen war. Diese neue Koalition richtete sich gegen das Zarentum Rus. Das Vermächtnis von Wolter von Plettenberg, der den Frieden mit Russland befürwortete, wurde der Vergessenheit preisgegeben. Nach einer Reihe von militärischen Niederlagen wurde Fürstenberg 1559 des Landmeistersamtes enthoben und Gotthard Kettler als sein Nachfolger bestätigt. Allerdings behielt Johann Wilhelm von Fürstenberg wichtige Ämter im Ordensstaat, verwaltete weitläufige Gebiete und war im April 1560 der Oberbefehlshaber der Ordensburg Fellin, die als die größte im Baltikum galt. Die verheerende Niederlage der Söldner des Deutschen Ordens in der Schlacht bei Ermes (2. August 1560) trieb auch den Fall des belagerten Fellin voran. Fürstenberg wurde mit seinen Truppen gefangen genommen und fortgeschafft in die östliche Grenzstadt Jaroslawl (280 Kilometer nordöstlich von Moskau), die den wichtigen Wolga-Handelsweg sicherte. Später schrieb Fürstenberg aus Jaroslawl seinen Verwandten, er habe keine Gründe, mit dem Schicksal zu hadern. Er fühlte sich in seinem neuen Zustand offenbar nicht eingeschränkt und wurde in Moskau bei Zarenaudienzen gesehen. Sein Schicksal war typisch für das vieler ehemaliger Angehörigen des Deutschen Ordens, die in Zarendiensten angestellt waren. Ein wichtiger Faktor, der die bewusste Pflichterfüllung seitens der „ausländischen Krieger“ veranlasste: Sowohl das Zarentum als auch das christlich geprägte Europa führten zu jener Zeit die erschöpfenden Türkenkriege gegen das Osmanische Reich und seine Verbündeten. Die an den Grenzen zum türkischen Feind beheimateten Ordensmitglieder verteidigten also eigentlich die europäische Souveränität auf den fernen Vorfeldern des Abendlands.
Das tragische Fazit des 16. Jahrhunderts war die humanitäre Katastrophe des Ostbaltikums. Die deutsche Bevölkerung wurde zwischen dem Herzogtum Preußen, dem Herzogtum Kurland und Semgallen (seit 1561), die unter polnischer Hoheit standen, und den durch Schweden besetzten Territorien im Nordostbaltikum zerrissen. Einige ostbaltische Inseln gehörten Dänemark. Mehrere Zehntausend gefangen genommene Deutsche Livlands wurden an den Süd- und Ostgrenzen des Zarentums – an der Verhaulinie (засеки [zaseki]) – angesiedelt.
Die Gräuel der Bartholomäusnacht (24. August 1572), die die französischen Katholiken an den protestantischen Hugenotten begingen, versetzten für Jahrhunderte die europäischen Protestanten in Schrecken und Misstrauen. Die beiderseitige Abneigung zwischen Katholiken und Protestanten war zur gesellschaftlichen Norm geworden.
In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts schien es für viele ehemalige ostbaltische Mitglieder und Untertanen des Deutschen Ordens nur zwei Möglichkeiten zu geben: entweder sich irgendwie der drastisch geänderten geistlichen Umgebung anzupassen oder auszuwandern. Das Damoklesschwert der katholischen Rache blieb über den Köpfen der Lutheraner unter der polnischen Hoheit hängen, die lutherischen Kirchenrituale durften in den schwedischen bzw. dänischen Besatzungszonen Livlands nur in den nationalen Sprachen der Besatzungsmächte ausgeübt werden.
Der lutherische Glaube war im Zarentum Rus geduldet und in vielen Aspekten konnten die Protestanten und die christlichen Andersgläubigen, wie z. B. die Anhänger der Lehre von Andreas Osiander17 oder Antitrinitarier, sich wesentlich ungehinderter in Ost- als in Westeuropa oder im Ostbaltikum fühlen. Der Militärdienst im Zarentum bot ihnen auch eine lukrative Perspektive. Den Offizieren und einfachen Verhauliniekriegern wurde guter Sold vom Zarenschatz entrichtet. Für zuverlässige Dienste wurden ihnen Bodenanteile mit Leibeigenen in der fruchtbaren Schwarzerde-Zone Osteuropas zugeteilt, die von dem Osmanischen Reiche erobert worden war.
Eine Gruppe von Deutschen aus Livland ließ sich in der Moskauer Vorstadt an den Ufern der Jausa, dem linken Nebenfluss der Moskwa, nieder. 1560 wurde dort die Lutherische Gemeinde gegründet, der der Sohn des friesischen Theologen Brictius thon Norde vorstand18. 1601 wurde auf Anordnung des Zaren Boris Fjodorowitsch Godunow die lutherische Steinkirche in Moskau gebaut.
Dorniger Weg zur Imperiumsgründung
In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zählten die osteuropäischen Chroniken 43 Einfälle der Krimtataren. Der Sultan des Osmanischen Reiches Selim II. plante selbst die Eroberung des Zarentums Rus und forderte aus diesem Grund die erneute Unterstützung des Krimkhanats. Polen und Litauen verbündeten sich mit dem Sultan.
1606 endete der Lange Türkenkrieg (1593–1606). Eine einmalige Zahlung von 200.000 Gulden beendete den bis dahin jährlich den Türken zu zahlenden Tribut der Deutschen. Der Sultan musste den deutschen Imperator erstmals als gleichberechtigten Verhandlungspartner anerkennen. Dennoch schalteten sich schon ein Jahr zuvor die Verbündeten der Türken – die Polen – als vermeintlicher Garant der Erbrechte der Rurikiden in den innerpolitischen Streit des Zarentums Rus ein. 1605 okkupierten die Polen Moskau und setzten ihren Schützling Pseudodimitri I. auf den Zarenthron. Als dieser 1606 vom aufständischen Volk ermordet worden war, ließen die Polen ihren zweiten Protegé, den zweiten falschen Dimitri, zum Zaren krönen.
1607, zum ersten Mal seit der Niederlage auf dem Schlachtfeld bei Molodi (1572), durchbrachen die Krimtataren die Verteidigungsstellungen an der Oka und verwüsteten die Gebiete, die ihrem Verbündeten, dem polnischen König, die Eidesleistung verweigerten. Die Bojaren und das Volk riefen ihre Nachbarn – die livländischen deutschen Ritter – um Hilfe an. Ein Teil der Ritter unterstellte sich nach dem Livländischen Krieg der schwedischen Krone, sodass sie für ein solches Unternehmen der Einwilligung des schwedischen Königs bedurften. Der Titularkönig von Schweden, Sigismund III. Wasa, der von 1587 bis 1592 auch das gewählte Staatsoberhaupt von Polen-Litauen war, stimmte unter bestimmten Vorbedingungen zu. Der in Reval geborene Graf Jakob Pontusson De La Gardie von Läckö war an die Spitze des Heeres gesetzt, das die Polen bei ihrem Vormarsch aufhalten sollte. Zusammen mit dem Zarenheer, das Michail Wassiljewitsch Skopin-Schuiski führte, schlugen die Deutschen die Polen bei Twer und befreiten das Kloster der Dreifaltigkeit und des Heiligen Sergius.
Am 10. März 1610 marschierten die Alliierten feierlich in Moskau ein, wo sie von der Bevölkerung mit Brot-und-Salz-Gabe begeistert bejubelt wurden. Am 18. März gab der zurückgekehrte Zar Wassili IV. in der von den Polen befreiten Hauptstadt ein fürstliches Festmahl zu Ehren von De La Gardie und seinen deutschen Rittern…
Im Winter 1656/57 fielen die Lipka-Tataren und Krimtataren in das Livland benachbarte Herzogtum Preußen ein. Der verwüstende Raubzug erfolgte, nachdem sich Polen 1654 mit dem Krimkhanat verbündet hatte. Die Tataren töteten bis zu 23.000 Menschen und verschleppten 34.000 Einwohner Preußens in die Sklaverei. Den Chroniken zufolge verhungerten oder erfroren bis zu 80.000 Menschen in den verwüsteten Landstrichen.
Allerdings war Ende des 17. Jahrhunderts auch für die Polen die Gefahr, von den Türken erobert zu werden, zur realen Bedrohung geworden und das deutsch-polnische Entsatzheer unter der Führung des polnischen Königs Johann III. Sobieski rettete die vom 14. Juli bis 12. September 1683 belagerte Hauptstadt des Deutschen Imperiums – Wien – in der Schlacht am Kahlenberg (12. September 1683). Der Versuch des Osmanischen Reiches, Wien zu erobern und das Tor nach Zentral- bzw. Westeuropa aufzustoßen, war gescheitert. Dennoch dauerte der Große Türkenkrieg noch fast anderthalb Jahrzehnte. Im Frieden von Karlowitz (26. Januar 1699) musste sich das Osmanische Reich erstmals von den christlichen Mächten (Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, Polen-Litauen, Republik Venedig, Kirchenstaat sowie Zarentum Rus) Friedensbedingungen diktieren lassen.
Inzwischen verschlechterte sich die Lage der Deutschen, Esten und Letten in Livland. Das 1561 entstandene Herzogtum Kurland und Semgallen stand unter der Suzeränität Polen-Litauens. Zwar erreichte Kurland unter Herzog Jakob Kettler eine wirtschaftliche Blüte, verfügte über eine der größten europäischen Handelsflotten und besorgte sich sogar die Kolonien Tobago (Neukurland) und James Island am Gambia-Fluss in Afrika. Doch seine wirtschaftlichen und sozialen Errungenschaften wurden 1655 durch den Einfall der Schweden zunichtegemacht.
Der Vertrag von Oliva (3. Mai 1660) verbriefte die schwedische Oberhoheit über Livland und Riga. Die schwedische Krone ergriff diese Gelegenheit, um eine umfassende Enteignungskampagne, die man „Reduktion“ nannte, in Livland durchzuführen. Der schwedische König Karl XI. ordnete an, die Bodenanteile der Deutschen für den Fiskus einzuziehen. Und gleichzeitig wurde auf grausame Weise versucht, den ehemaligen Grundbesitzern ihr beschlagnahmtes Eigentum zu verpachten, „um weitere Geldmittel flüssig zu machen“19, und „die deutsche durch die schwedische Verwaltungssprache zu ersetzen“20.
Dem Kampf gegen die schwedischen Okkupanten stand Johann Reinhold von Patkul vor. 1694 musste er ins Exil gehen, nachdem das Todesurteil über ihn verhängt und seine livländischen Güter beschlagnahmt worden waren. Am 1. November 1698 trat er in den Dienst Augusts des Starken, den Herzog von Sachsen sowie ab 1697 König von Polen-Litauen, und erreichte, dass 1699 mit Dänemark und Russland ein gegen Schweden gerichtetes Bündnis geschlossen wurde. Darum sehen manche Geschichtsschreiber in Patkul den Initiator des Großen Nordischen Krieges (1700–1721). 1701 ging er in den Dienst des russischen Zaren Peter I. und wurde 1703 dessen Gesandter am sächsisch-polnischen Hof. Doch als August der Starke einen Separatfrieden mit Schweden anstrebte, wirkte er diesem entgegen, woraufhin er am 19. Dezember 1705 inhaftiert wurde. Am 7. April 1707 wurde er an den Schwedenkönig Karl XII. ausgeliefert. Dieser ließ ihn als Landesverräter rädern und vierteilen.
Der Anfang des Großen Nordischen Krieges nahm für Russland eine katastrophale Wendung. In der Schlacht bei Narva (20. November 1700) schlug der noch junge schwedische König Karl XII. (*1682; † 1718) die zahlenmäßig weit überlegene Zarenarmee vernichtend. Die schwere taktische Niederlage des Zarenheers bei Narva barg zugleich den Samen des späteren Erfolgs. Peter I. lernte aus seinem Misserfolg. Er forcierte die Schwerindustrie zur Herstellung des damals modernsten Kriegsgerätes. Mithilfe deutscher Fachleute reformierte und vergrößerte der Zar die veraltete Armee bis 1705 auf 200.000 Soldaten und machte sie den modernen Armeen Europas ebenbürtig. In der Schlacht bei Poltawa (8. Juli 1709) wurde die schwedische Hauptarmee völlig vernichtet und Karl XII. floh zu den Türken, bei denen er sich fünf Jahre aufhielt.
Dennoch musste 1711 die Armee des Zaren, der auf die Solidarität der slawischen Völker im Kampf gegen das Osmanische Reich vergeblich gehofft hatte, eine ernüchternde Niederlage hinnehmen. Nur das Wohlwollen des oberbefehlshabenden Großwesirs des Osmanischen Reiches, Baltajı Mehmed Pascha, der die Zarenarmee einschloss, rettete den Zaren und seine heimliche Gemahlin Jekaterina (zukünftige Imperatorin Katharina I.) vor der erniedrigenden Gefangennahme. Zur Milderung der Bedingungen des nachfolgenden Friedens vom Pruth (23. Juli 1711) trugen auch die von Peter Pawlowitsch Schafirow, Boris Petrowitsch Scheremetew und dem jungen Diplomaten Heinrich Johann Friedrich Ostermann geschickt durchgeführten Verhandlungen bei.
Nach zehn Jahren, am 10. September 1721, unterzeichnete Ostermann im Namen des Zaren Peter I. den Frieden von Nystad, der den 20-jährigen Krieg (1700–1721) beendete, und Livland, vertreten durch die Livländische Ritterschaft des Deutschen Ordens, vereinigte sich mit dem Zarentum Rus. Das war die Gründungsstunde des neuen Staatwesens Eurasiens – des Imperiums der Rossen. Dadurch wurde auch der andauernde gemeinsame Kampf gegen das türkische Osmanische Reich und seine Satelliten gekrönt. 1721 waren mehr als 100.00021 Deutsche Livlands zu Imperiumsuntertanen geworden.
Quellen und Anmerkungen
1. Hakudoushi: Wikipedia; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Coat_of_Arms_of_Gothia.png; abgerufen am 03.04.2016 um 07:15 Uhr
2. Лобачев Владимир: Wikipedia; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Seal-of-Ivan-4_1539_a.svg; abgerufen am 03.04.2016 um 07:30 Uhr
3. Федеральный конституционный закон «О Государственном гербе Российской Федерации»: Wikipedia; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Coat_of_Arms_of_the_Russian_Federation.svg; abgerufen am 03.04.2016 um 09:00 Uhr
4. Новгородский государственный объединённый музей-заповедник (НГОМЗ)
5. Wikipedia; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:SanProcopio.jpg; abgerufen am 03.04.2016 um 17:30 Uhr
6. Памятники дипломатических сношений древней России с державами иностранными. Часть первая: Сношения с государствами европейскими: Памятники дипломатических сношений с Империей Римской; том I; С. Петербург 1851; столбцы 19, 20.
7. Fürst Lichnowsky, Eduard Maria von: Geschichte des Hauses Habsburg. Achter Theil: Kaiser Friedrich III. und sein Sohn Maximilian 1477 – 1493; Wien: Schaumburg und Compagnie1844; S. DCCLII.
8. Памятники; столбец 93.
9. Winckler, Artur: Die Deutsche Hansa in Rußland. - Berlin : Prager, 1886.
10. Sach, Maike: Hochmeister und Großfürst; Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2002; S. 325–326.
11. Ebenda; S. 327.
12. Kappeler, Andreas: Ivan Groznyj im Spiegel der ausländischen Druckschriften seiner Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte des westlichen Russlandbildes; Frankfurt/M.: Lang 1972; S. 216.
13. Ebenda; S. 25.
14. Ebenda.
15. Amburger, Erik: Die Anwerbung ausländischer Fachkräfte für die Wirtschaft Russlands vom 15. bis ins 19. Jahrhundert; Wiesbaden: Otto Harrassowitz 1968.
16. LI. Лепёхин, А.Н.: Фамилии служивых людей, проживавших в г. Дедилове в XVI–XVII вв.; Manuskript.
17. Andreas Osiander (* 1498; † 1552) war Theologe und deutscher Reformator. Für den theologischen Urheber der Reformation Martin Luther (* 1483; † 1546) blieb ein Sünder auch nach der Rechtfertigung vor Christus zutiefst ein Sünder. Osiander war dagegen – ähnlich der Position der Ostkirchen – der Meinung, dass die Gerechtigkeit Christi durch den Glauben dem Menschen eingepflanzt und somit ein Wesensbestandteil des Glaubenden wird. Der sogenannte „Osiandrische Streit“ entzweite den Protestantismus. Osiander und seine Anhänger gingen in dieser für die Reformation wichtigen theologischen Frage Zeit ihres Lebens eigene Wege. Er suchte, anders als Luther, einen echten Dialog mit den Juden, setzte sich energisch für ihre Rechte ein und lehnte jede Form des Antijudaismus ab.
18. Emil Dösseler: Soester auswärtige Beziehungen, besonders im hansischen Raum – Teil I, Einführung und Überblick; Soest: Westfälische Verlagsbuchhandlung Mocker & Jahn 1988; S. 123.
19. Tuchtenhagen, Ralph: Zentralstaat und Provinz im frühneuzeitlichen Nordosteuropa; Wiesbaden: Harrassowitz 2008; S. 346.
20. Ebenda.
21. Diese Zahl ist auch aufgrund der Daten, die im Buch von Raimo Pullat – Die Stadtbevölkerung Estlands im 18. Lahrhundert; Mainz: Verlag Philipp von Zabern 1997 – angegeben sind, hochgerechnet worden.
Walther Friesen