Krieg, Flucht und Folgen

 

 

Paul Kieß/Moskau

Das Echo auf die russische Übersetzung von Tatiana und Walther Friesen
des autobiografischen Romans von Ursula Dorn „Ich war ein Wolfskind aus Königsberg“
ISBN: 978-3-00-053170-5; Original Buch: ISBN: 978-3-902647-09-2

 

Ich möchte die Gedanken, die mir beim Lesen des Buches vorgekommen sind, publik machen. Seine russische Übersetzung ist dem russischsprachigen Leser bestimmt; der den Sieg im 2. Weltkrieg geerbt hat. Das Hauptanliegen des Buches ist es, dem Stammhalter des Siegers zu zeigen, was in der Wirklichkeit passiert ist, die durch den krummen Spiegel der sowjetischen Propaganda verzerrte Wahrnehmung zu berichtigen, weil er sich noch heute von diesem verzerrtem Geschichtsbild täuschen lässt. Es ist den beiden Völkern wichtig – den Deutschen und den Russen, um die guten, einzigartigen zwischenmenschlichen Beziehungen, die bis 1914 existierten, wiederherzustellen. Auf Grundlage des Geschichtsbildes, das von Widersachern unserer Freundschaft geschaffen ist, ist diese Wiedergutmachung unmöglich.

 

Die ungestörte Aufarbeitung der dokumentierten Geschichte ist das Ziel dieses Buches. „Ein Keil treibt den anderen“. Die Schilderung von schockierenden Gräueltaten, die von manchen Rotarmisten begangen worden sind (keine Einzelfälle) ist auch ein Instrument, das eine solche Richtigstellung ermöglicht. Sowie – die noblen Akten des Gegners als die letzten Militärehren den gefallenen russischen Helden bezeigt wurden (was seitens der Roten Armee niemals der Fall gewesen ist).

 

Nur die dokumentierte Geschichte, die womöglich auch von anderen bezeugt werden kann, kann zur Wiederherstellung der eingeborenen Empathie zwischen unseren Völkern beitragen. Die einseitig dargestellte dokumentierte Geschichte kann auch unter Umständen – und schon veranlasst durch die Deutschen – den Zwist zwischen den beiden nachbarschaftlichen Nationen vertiefen lassen. Und dann sind alle Bemühungen vergebens. Die Eskalation der Feindschaft zwischen den Deutschen und den Russen muss mit allen Mitteln verhindert werden...

 

Das Schicksal der deutschen Zivilbevölkerung in Königsberg und Ostpreußen während der letzten Monate des 2. Weltkrieges und der ersten Nachkriegsjahren ist der Leitfaden des autobiografischen Romans von Ursula Dorn. Über die erste Zeitspanne erfahren wir, unter anderem, aus den Memoiren „So fiel Königsberg“ vom General der Infanterie Otto Lasch. Am 9. April 1945 unterschrieb er den Kapitulationsvertrag mit der Bedingung, dass die Siegermacht sich um die Königsberger Zivilbevölkerung kümmern wird. Weder die Gefangenen noch die Zivilisten wurden von Paragrafen dieses Vertrages geschützt. Das Letzte wird vom einfachen Königsberger Kind berichtet, das alles miterlebt hat: „Kindermund tut Wahrheit kund“.

 

Die Geschichte wird von Siegern geschrieben und so dargestellt, wie sie es sehen wollen. Aber die Wahrheit, die bittere Erkenntnis kann über kurz oder lang nicht mehr verheimlicht werden. Obwohl es nur die ersten Schritte zur Aufarbeitung der gemeinsamen tragischen Geschichte sind.

 

Sogar solche vorsichtige Aufklärungsversuche rufen bei den Feinden der Wahrheit die im ersten Augenblick unangemessene grimmige Wut hervor. Die Erben der Sieger brandmarken sie als „die Fälschung der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges“, der Geschichte, die von ihnen geschrieben worden ist. Sie veranstalten politische Demarchen, räumen dem Kampf mit der Geschichtsaufarbeitung die höchste Priorität ein. Sie versuchen, die Verantwortung für ihre Kriegsverbrechen auf die Besiegten zu übertragen (wie es mit der Ermordung der polnischen Offiziere in Katyn während des Nürnberger Prozesses passiert ist). Und wenn es ihnen nicht gelingt, werden die von der Roten Armee begangenen Gräuel wie „die gerechtfertigte Rache“ „gerechtfertigt“. Die Sieger haben die in der Geschichte ohnegleichen Massenpropaganda in Gang gebracht, mit dem Ziel die Deutschen zu verleumden, um sie wie die einzigen Verbrecher des faschistischen Blocks darzustellen.

 

Insbesondere versuchte man die Deutschen wie grausame Raubmörder und Vergewaltiger darzustellen, was kein Zufall ist, weil genau dadurch die Sieger gekennzeichnet wurden. Im Unterschied zu den geltenden deutschen Gesetzen für die besetzten Gebieten, die die sexuellen Kontakte mit der einheimischen Bevölkerung aufgrund der rassistischen Ideologie verbaten, Vergewaltigung der deutschen Frauen als Kriegsbeute, die dem Moral des Siegers entsprach, war die offizielle Politik für die Roten Armee. Millionenfach wurden die verbrecherischen Beiträge von Ilja Ehrenburg, dem populärsten Korrespondenten der Zeitung „Roter Stern“, mit den entsprechenden Aufrufen zu sowjetischen Soldaten vervielfältigt. Ohne jeden Zweifel, hätte man ihn vor dem Nürnberger Tribunal gebracht, wäre er als Kriegsverbrecher zum Tode durch den Strang verurteilt.

 

Aber in Ostpreußen und Königsberg wurde das Dasein der Einheimischen auch durch die ethnische Säuberung erschwert: die deutsche Bevölkerung musste entweder deportiert oder vernichtet werden. Und eigentlich mittels der erprobten Methode – durch das Verhungernlassen, um das so entvölkerte Territorium für die neuen Herren freizumachen. Alle diese frevlerischen Aktionen der Sieger musste die über die Köpfe der Europäer, in erster Linie – der Deutschen, hergefallene Propaganda verschleiern. Verschweigen, Fälschungen, Lügen und Verleumdungen sind Instrumente dieser Propaganda. Sogar die sowjetischen Bürger, die den Krieg während der Okkupationszeit und in der unmittelbaren Frontnähe miterlebt hatten, vermieden die Filme mit antideutschen Ressentiments zu sehen, weil es in diesen zu viel gelogen wurde.

 

Und von sowjetischen Frontkämpfern war es unmöglich, sogar „mit rotglühendem Eis“ die Wahrheit über das Kriegsgeschehene herauszubekommen. Anstelle von diesen besuchten die Schulen die hauptamtlichen „Frontsoldaten“, die den Kindern die offiziell erlaubten Mythen über den Krieg verabreichten. Als Gegenleistung bekamen sie verschiedene Vergünstigungen vom Staat. Im Nachhinein stellte es sich nicht selten heraus, dass solche Propagandisten gaben sich wie Frontkämpfer unbefugt aus. Allerdings, die wahre Geschichte, das Volksgedächtnis ist es unmöglich zu übertönen. Das Buch von Ursula Dorn ist ein wichtiger Beitrag zum kollektiven Volksgedächtnis der Deutschen und der Russen.

 

Die Kehrseite dieser Propaganda ist die Angst der Angeschuldigten, die Wahrheit zu offenbaren. Aber diese Angst muss unbedingt überwunden werden, weil die Wahrheit letztendlich die Gewalt besiegen wird. Obwohl kaum voll und ganz, hat Ursula Dorn diese Angst überwunden; sie teilt uns selbstverständlich nicht alles mit, was sie im Gedächtnis hat. Aber es ist ein wichtiger Schritt auf dem rechten Wege. Und es gibt schon mehre solche Schritte in dieser Richtung, was die Wut der Widersacher der Wahrheit hervorruft.

 

Der größte Teil der Erinnerungen ist dem Kampf gegen den Hunger gewidmet, der Reifungsprozess des Kindes verlief vor dem Antlitz des Hungertodes. Hunger ist eine der grausamsten Kriegserscheinungen. Hunger in belagertem Leningrad und Holocaust sind berechtigt zu Symbolen der Kriegsschrecken geworden. Aber die Hungernot in Königsberg und Ostpreußen ging nach dem Kriegsende – während der „Friedenszeit“ – vor. Und die Tragödie dieser kleinen unschuldigen Kriegsopfer ist ebenso erschreckend... Für dieses Kriegsverbrechen gibt es keine Rechtfertigung.

 

Der autobiografische Roman von Ursula Dorn spiegelt noch einen wichtigen Aspekt der Nachkriegszeit wider – den Beistand, der in dieser schweren Zeit den Deutschen von den Litauern und Litauerinnen geleistet wurde. Das litauische Volk kann stolz auf diese heroische Tat sein. Dankbarkeit ist ein Bestandteil der Gerechtigkeit. Nie müssen die Deutschen diese heroische Tat vergessen. Die Dankbarkeit der Deutschen muss sich nicht auf den Rückhalt beschränken, den sie schon den Litauern während der für sie schweren Zeiten verliehen hatten. Der Durchbruch Litauens nach Westen während der letzten Tage vor dem Zerfall der Sowjetunion, seine Rückkehr zum anheimelnden Umfeld und Wiederherstellung der Unabhängigkeit muss auch von den Deutschen gefeiert werden.

 

Das von der Autorin erwähnte Verbot, die Muttersprache zu sprechen ist auch sehr wichtig, um die Einschränkungen der damaligen Zeit richtig verstehen zu können. Weder in den baltischen sowjetischen Nationalrepubliken noch in den Mitte 1950er wiederherstellten Teilautonomien (deren Bevölkerung während des 2. Weltkrieges deportiert wurde), gab es kein offizielles Verbot die Muttersprache – d. h. nicht-russische Sprache – zu sprechen. Aber das von den Behörden stillschweigend geförderte Sprachpolitikklima war ebenso effektiv wie ein offizielles Verbot gewesen wäre.

 

Zum Beispiel, in der Tschetscheno-Inguschischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik war es üblich in den öffentlichen Verkehrsmitteln nur russisch zu sprechen. Die Tschetschenen, die versuchten ihre Muttersprache zu sprechen, wurden von den russischen Passagieren angefordert, sich auf Russisch zu unterhalten... Weil die Russen ihre Sprache nicht verstehen konnten... „Vielleicht beschimpften sie die Russen“. Als 1956 die administrative Aufsicht über die Russlanddeutschen aufgehoben wurde, wurde der größte Teil von ihnen nach Sibirien deportiert. Sie versuchten die verborgenen Plätze – manchmal ein offenes Feld, wo sie von niemandem gehört werden konnten – zu finden, um miteinander ein bisschen auf ihre deutsche Muttersprache unterhalten zu können.

 

Als Wladimir Putin zur Macht kam, wurde es verfassungswidrig schon in „neuem“ Russland verboten, das Tatarische in der autonomen Republik Tatarstan auf ein Lateinalphabet umzustellen. Dieses Verbot besagt vieles, u. a. ruft ins Bewusstsein die ehemalige Sprachpolitik zurück; es ist auch eine Bewährungsprobe für die russische Politik: sei sie den sprachpolitischen und nationalen Herausforderungen gewachsen?

 

Paul Kieß